Claudia Sperlich
Ich bin 1962 in Berlin geboren. Erzogen wurde ich in einem religionsfernen, wenn auch vom Christentum selbstverständlich geprägten Weltbild, in dem Friede und Verzeihungsbereitschaft hohe Bedeutung hatten und abendländischer Kunst und Kultur höchste Bedeutung zukam. Mein Vater lehrte mich, dass ohne Bibelkenntnis weder die deutsche Sprache mit ihren zahlreichen biblischen Wendungen und ihrer bedeutenden religiösen Dichtung noch die europäische Kultur mit unzähligen Kirchen und religiösen Bildern verständlich seien. Dabei wurde vorausgesetzt, dass Religionen ein kulturstiftendes Hilfsmittel zum Weltverständnis vor der Aufklärung sind, und dass man nun Religionen nicht mehr braucht und es ohnehin keinen Gott gibt. Jesus wurde nur als beeindruckende historische Persönlichkeit verstanden.
«Du musst die Lutherbibel lesen, das gehört zur Bildung» – in Abwandlungen hörte ich diesen Satz oft. In einer Zeit, in der ich eine naiv romantisierende Vorstellung von Kommunismus hegte, wie in William Morris Kunde von Nirgendwo, begann ich, das Neue Testament und die Psalmen zu lesen. Ich strich in den Psalmen die Wörter frei und Freiheit an und sah die Verse mit linksintellektuellem Hochmut als Vorstufe zum freiheitlichen Denken. Im Sommer 1983 wanderte ich allein in den Schweizer Alpen. Eine Taschenausgabe des Neuen Testaments und der Psalmen trug ich bei mir. Die Evangelien las ich als eine schöne und spannende Geschichte, die Psalmen als eindrucksvolle antike Lyrik. Besonders sprach mich der 121. Psalm an, weil ich nachvollziehen konnte, dass ein Mensch beim Anblick der Berge religiöse Scheu empfindet. Ich hatte in einer Herberge übernachtet und war sehr früh aufgebrochen, stand auf einem Plateau in etwa 1800 Meter Höhe. Es war die Sonne aufgegangen, im Osten, wie immer, an einem besonders schönen Ort – und ich begriff schlagartig, dass die Evangelien und Psalmen die Wahrheit sagen. Für mich gab es von nun an keinen Zweifel mehr daran, dass der dreieine Gott existiert und dass der 121. Psalm wörtlich zu nehmen ist.
Gottes Existenz habe ich seither nicht einen Augenblick lang bezweifelt. In der Osternacht 1984 wurde ich getauft. Es hat seitdem Zeiten gegeben, in denen ich mit der Kirche meine Schwierigkeiten hatte, aber selbst als ich nur noch enttäuscht und zornig an sie dachte und ihr fernblieb, kam ein Austritt für mich nicht in Frage – auch wenn mir als Argument nur Joh. 6,68-69 blieb: Wohin sonst? Aus der überzeugten Gottesleugnerin war eine überzeugte Katholikin geworden. Aber ich blieb ein eitler, rechthaberischer und zum Zorn geneigter Mensch. Das war mir nur halb bewusst, und ich redete mich damit heraus, dass andere nicht besser seien. Zudem hatte ich eine ständige Scheu davor, mich wirklich offen als Christin zu bekennen - denn da war immer ein unterschwelliges Gefühl der Peinlichkeit, wenn mir meine Eltern und Brüder in den Sinn kamen, alle in weltlicher Hinsicht erfolgreicher und ordentlicher als ich, und alle Atheisten. Erst nach dem Tod meiner Eltern änderte sich das; mit einer Mischung aus Erleichterung und schlechtem Gewissen stellte ich fest, dass ich mich nicht mehr schämte, über meinen Glauben zu sprechen.
Die Lehre der katholischen Kirche, das Gebet und vor allem die Eucharistie wurden mir immer wichtiger. Ich diene als Lektorin. Gelegentlich halte ich Vorträge über christliche Themen. Aber das alles änderte meine grundlegenden Fehler nicht. Am Freitag, dem 4. Oktober 2013 – dem Gedenktag des Franziskus von Assisi – stand ich betend vor dem Kreuz in meinem Wohnzimmer. Etwas fuhr durch mich wie ein ungeheurer Schreck. Ich hatte das bestimmte Gefühl, knien zu sollen. Ich kniete nieder und nahm plötzlich, in scharfer Deutlichkeit, zwei Worte in meinem Inneren wahr: Reue und Buße. Diese Worte – und keine anderen – wiederholten sich. Ich kniete weiter und berührte fast mit der Stirn den Boden. Ich fragte: «Wer bist du?» Ich bekam keine Antwort, nur immer wieder diese Worte – Reue, Buße. «Bist du es, Jesus?» fragte ich. Zugleich wuchs in mir das Vertrauen, dass diese Worte sinnvoll waren, dass sie nötig waren. Nach einer Weile stand ich auf, denn ich wollte ein Gespräch mit dem Pfarrer. Ich fragte ihn: «Wenn Gott zu einem spricht – woher weiß man dann, ob es Gott ist – und kein anderer?» Ich berichtete – und als das Wort Vertrauen fiel, sagte er: «Ich bin froh, dass Sie das gesagt haben. Der Teufel flößt niemals Vertrauen ein.» «Und warum tut Gott das mit mir? Ich bin doch gar kein besonderer Mensch». «Es ist eine Gnade.» Am folgenden Abend ging ich zur Beichte. Ich habe den Sinn des Wortes Gottesfurcht sehr klar begriffen – und dann gelernt, auf eine tiefere und reifere Art Seine Liebe und Sein Erbarmen wahrzunehmen.
Ich ging zur Messe, sooft ich konnte – nicht nur an Sonntagen, und ich gewann das stille Gebet vor dem Tabernakel immer lieber. Langsam reifte in mir ein Entschluss: Katholiken haben verschiedene Möglichkeiten, Gelübde abzulegen. Am bekanntesten sind die Ordensgelübde, die «Evangelischen Räte» Armut, Keuschheit, Gehorsam – gewöhnlich zunächst auf die Zeit von drei Jahren abgelegt, dann auf Lebenszeit. Dabei gibt sich ein Mensch ganz in Gottes Hand, verzichtet auf Besitz, Sex, Autonomie – und erhält gerade dadurch eine nonkonformistische Freiheit, die ihresgleichen sucht. Auch Priester – nicht nur Ordenspriester – geloben etwas, nämlich Gehorsam gegenüber ihrem Bischof, Keuschheit und das treue Versehen ihrer Amtspflichten, wozu das tägliche Stundengebet gehört. Gelübde kann aber auch jeder katholische Laie leisten. Es muss nur immer eine gute, gottgefällige Sache beinhalten, dem Gläubigen möglich und erlaubt sein, wohlüberlegt und freiwillig geschehen. Hat aber jemand privat etwas gelobt und merkt, dass er es nicht halten kann, so kann ihn ein Priester in der Beichte davon lossprechen. Dann gibt es die Möglichkeit eines privaten Gelübdes, das man öffentlich (in einem Gottesdienst) und vor einem Priester leistet. Von einem solchen Gelübde kann nur der Papst entbinden. Nicht nur deshalb wird vorher sehr genau mit einem Priester darüber gesprochen, der mit dem Gläubigen gemeinsam bespricht, ob das Gelübde die Grundvoraussetzungen «gut, durchdacht, freiwillig, möglich» überhaupt erfüllt. Genau SO verbindlich wollte ich es haben!
Am 27. November 2016 legte ich ein Gelübde auf drei Jahre ab und habe es mit wachsender Freude gelebt. Es beinhaltete die tägliche Messfeier, tägliche Anbetung, häufige Beichte und die Evangelischen Räte.
Schon Anfang 2019 war mir völlig klar: Das will ich für immer! Als Termin beschloss ich den Sonntag Gaudete – in diesem Jahr war das der 15. Dezember. In der Woche davor bereitete ich mich gründlich vor. Fünf Tage verbrachte ich in einem Kloster, nur mit Bibellesen, Schreiben, Stundengebet und Messe. Am Sonnabend vor dem großen Tag beichtete ich bei dem Priester, vor dem ich das Gelübde ablegen wollte. Zelebrant und Konzelebrant und Diakon – sie alle blieben nach der Messe zu meinem Gelübde da. Großer Bahnhof! Der Priester, der vorher Konzelebrant gewesen war, rief mich nach vorn, wir beteten das Vaterunser und das Ave. Dann fragte er, ob dies Gelübde «ein freiwilliges und überlegtes, mögliches und Gott gemachtes Versprechen sei, dessen vorsätzlicher Bruch einer sakrilegischen Sünde gleichkommt.» Ich konnte aus vollem Herzen JA sagen.
Nun kniete ich vor dem Altar und sagte vor dem Priester und der Gemeinde: Ich gelobe, mein Leben lang keusch zu leben, dem Herrn und der Kirche gehorsam, in evangelischer Armut so besitzend, als besäße ich nichts, täglich an der Heiligen Messe teilzunehmen, täglich wenigstens eine halbe Stunde lang in Anbetung zu verharren, entweder vor dem Tabernakel oder bei der Eucharistischen Anbetung, häufig, das heißt mindestens einmal im Monat, das Sakrament der Versöhnung zu empfangen. Beide Priester legten mir die Hände auf, und nun ist das Gelübde öffentlich und verbindlich.
Ewiges Gelübde
Mein Herr, Dir will ich ganz und gar gehören,
Ich will Dir dienen jeden Tag im Leben.
Was Du mir gibst, will ich Dir wiedergeben,
Und unsre Zweisamkeit soll niemand stören!
In Dir, mit Dir, zu Dir hin will ich streben,
Nie soll mich Welt und Nützlichkeit betören,
Dein Wort will ich an jedem Tage hören,
Zu Deinem Leib und Blut mein Herz erheben.
Ich will Dir gern bekennen meine Sünden,
In Armut, Keuschheit und Gehorsam bleiben,
Dein Wort und Deinen Leib mir einverleiben.
Von Deiner Liebe will ich dichtend künden
Und mit Dir teilen Deines Herzens Wunde.
So soll es bleiben bis zur letzten Stunde.
Claudia Sperlich hat einen katholischen Blog, nämlich Katholisch? Logisch!
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